Liebe Leser,
dieser Text ist eine Polemik in ihrer ursprünglichen Bedeutung, also der Streitkunst und nicht mit dem Ziel behaftet, die eigene Meinung durchzusetzen.
Was aber trieb mich eigentlich zu diesem Text?
Nun, der Auslöser war eine Videokonferenz mit Atos/Unify, welche ihre zukünftige Strategie und Ausrichtung im Bereich der Telekommunikation darlegten.
Um das Ergebnis dieser Unterhaltung vorwegzunehmen: Atos/Unify ziehen sich als Anbieter für ganzheitliche UCC-Lösungen sukzessiv aus dem Markt zurück und suchen ihr Heil als Reseller von RingCentral-Produkten und OpenScape-Nischenlösungen, den sogenannten „Verticals“.
Dies ist eine legitime Sicht auf den Markt, der zunehmend von US-amerikanischen, chinesischen und koreanischen Markteilnehmern dominiert wird.
Aber Unify und ihr Ursprung Siemens haben auch eine Geschichte in diesem Markt und diese beginnt 1879 mit dem verbesserten Kohlemikrofon eines Werner von Siemens und reicht über den 1913 patentierten Nummernschalter bis in unsere Zeit mit dem elektronischen Wählsystem Digital (ISDN).
Nun hat die ehemalige Mutter Siemens schon vor langer Zeit beschlossen, sich vom Konzernteil der Kommunikation zu trennen:
- Telefonvermittlungsdienste sind jetzt bei Nokia Solutions and Networks angesiedelt
- Siemens Mobile ging an BenQ (wer erinnert sich nicht an das daraus folgende Desaster)
- Und Siemens Enterprise Communication, heute Unify, wurde durch mehrere Hände gereicht bis man schließlich bei Atos landete
- Dabei strebte Siemens Mitte der 70er Jahre noch an, eine der bedeutendsten Akteure im Bereich Informations- und Kommunikationstechnologie zu werden.
Was ist seitdem passiert?
- Sind ITK-Infrastrukturen in Europa kein lukratives Geschäft?
- Warum werden wir von US-Firmen dominiert, deren Erfahrungen im Bereich TK-Lösungen gerade mal 20 Jahre zurückreichen?
- Weshalb vermarktet ein Unternehmen wie Atos lieber eine amerikanische Cloud-UC-Lösung als die eigene?
- Was läuft schief bei den europäischen Anbietern, die einen globalen Markt wie Mobile Communication mehr oder minder kampflos an Anbieter wie Huawei und Samsung abtreten?
- Vor diesem Hintergrund ist es geradezu rührend, wenn in der Politik über eine europäische Cloud-Initiative wie Gaia-X diskutiert wird, welche Jahre zu spät kommt und daher eine Totgeburt sein wird.
Gefordert wäre die europäische Industrie. Der ist es aber scheinbar völlig egal, was mit ihren Daten geschieht. Man hat sich ergeben und nimmt hin, dass man die Kontrolle über alle Daten in der Cloud an multinationale Konzerne abtritt, in der Hoffnung, dass es schon irgendwie gut geht.
Wo ist der „Druck der Straße“, also das Aufbäumen all derer, denen es nicht egal ist, von den Zukunftstechnologien abgehängt zu werden. Was will Europa in Zukunft dem Weltmarkt anbieten?
E-Autos? Da erleben wir gerade das nächste Desaster, wie VW mit dem ID3 gerade selber erfahren muss. Ein solches Gefährt steht und fällt mit der Bord-IT und der dazugehörigen Software. Beides nicht unbedingt die Kernkompetenzen eines klassischen Automobilbauers.
Weshalb man bei Volkswagen jetzt händeringend Software-Entwickler sucht.
Aber keine Sorge, man kann es auch wie Polestar, der E-Marke von Volvo, machen und einfach die Kernkompetenz der Zukunft, also das Betriebssystem moderner Autos, bei Google einkaufen.
Ist ja schon alles da. Warum selber entwickeln?
Sie merken schon, dieser Artikel ist von einer Sorge, ja Angst getrieben, das Europa in den wichtigsten Feldern der industriellen Zukunft abgehängt wird und zwar aus reiner Bequemlichkeit und Schläfrigkeit.
Aber gerade diese Technologien werden in Zukunft für Wohlstand und soziale Sicherheit sorgen.
Daher mein Appell an all die Anbieter und Nutzer von ITK-Produkten: In eine Entscheidung für oder gegen ein Produkt gehört auch die Betrachtung, wer die Leistung erbringt und wie dieser sich seiner gesellschaftlichen Verantwortung stellt.
Anbieter wie Google, Apple oder Facebook, denen es scheinbar nur um Gewinnmaximierung und Share-Holder-Value geht, muss die Stirn geboten werden.
Und an europäische Unternehmen, wie Atos, appelliere ich, stärker auf eigene Produkte zu setzen zumal dann, wenn diese in einer ausgereiften Form schon lange existieren.