aus dem Netzwerk Insider Juli 2022
Welcher IT-Berater kennt diese Situation nicht: Das Projekt beginnt und man benötigt wichtige Informationen, doch nur eine bestimmte Person beim Kunden kennt sich mit dem Thema aus. Diese ist jedoch nicht verfügbar oder wird kurzfristig abberufen. Die Vertretung hat nur eingeschränkten Einblick, Antworten auf wichtige Fragen erfolgen verzögert, Empfehlungen verpuffen oder werden mangels Machbarkeit gestrichen, Entscheidungen werden zeitverzögert umgesetzt oder bleiben aus. Das Projekt droht ins Stocken zu geraten.
Oliver Flüs hat dieses Jahr sein dreißigjähriges Jubiläum bei ComConsult gefeiert und berät neben Netz- und Sicherheitsthemen zum Bereich IT-Services. In diesem Interview erklärt er, warum Kopfmonopole eine Zeitbombe sind und (Mitarbeiter-)Wissen in Unternehmen aus dem Arbeitsalltag herausgefiltert und gesichert werden sollte, um es zu strukturieren, aktuell zu halten und gezielt über mehrere Mitarbeiter abrufbar zu machen.
Oliver, wenn du als Planer und Berater beauftragt wirst, musst du dich im ersten Schritt in die Umgebung eines neuen Kunden einfinden. Wie machst du das?
Ich muss zunächst den Ist-Zustand des Kunden kennenlernen. Dokumentationen bekommen wir vor allem dann als Erstes, wenn der Kunde wenig Zeit hat, mit uns zu reden. Oft sind die Informationen in den Unterlagen veraltet oder unvollständig und wir haken mit gezielten Fragen nach. Besserer Einstieg: Wir erhalten zunächst gar keine Dokumentation und der Kunde stellt uns in einer Art Startworkshop vor, wo aus seiner Sicht die Probleme liegen und warum er uns zu Hilfe geholt hat. Wir können dann gezielt fragen, auch nach Dokumentation zur Vertiefung. Problem schon hier: Haben zu dem Termin die Personen mit dem Insider-Wissen Zeit?
Wie gehst du vor, wenn die Informationen über den Ist-Zustand unzureichend zur Verfügung stehen?
Wenn das Projekt starten soll, ist es dem Kunden oft nicht möglich, uns den am besten informierten Wissensträger zur Verfügung zu stellen, weil er an anderer Stelle gebraucht wird. Das Problem ist, dass solches Personal schwer aus seinem Tagesgeschäft herausgeholt werden kann, um mit uns an dem Projekt zu arbeiten. Wir schauen uns dann selber alles an und machen Dokumentationssichtung, Begehungen usw. Doch auch dann brauchen wir einen Ansprechpartner, der uns zeigt, wo wir alles finden und worauf zu achten ist. Wenn es um Dinge geht, mit denen wir uns auskennen, können wir natürlich gezielt nachfragen. Trotzdem muss uns Kundenpersonal beispielsweise aus Zutrittsberechtigungsgründen begleiten. Im IT-Bereich reicht es oft nicht aus, Wachdienstpersonal als reine Aufsicht mitzuschicken, etwa wenn man ein Rechenzentrum betreten möchte. Auch brauchen wir oft jemanden vom IT-Bereich, der Zugriffsrechte auf Informationen hat, die wir uns anschauen möchten. Am Ende haben wir teilweise mit einem Riesenaufwand, den der Kunde bezahlen muss, die Bestandssituation erfasst. Und dieser Aufwand entsteht nicht zuletzt dadurch, dass uns der Kunde die Mitarbeiter, die sich am besten auskennen, nur schwerlich zur Verfügung stellen kann. Das ist natürlich ärgerlich.
Euer Ermittlungsaufwand ist doch kaum in der Kostenkalkulation vorab festzulegen?
Das ist zumindest schwierig. Bei Aufträgen mit Festpreis machen wir das auch nur sehr ungerne. Wir bieten häufig vorab einen Workshop an in der Hoffnung, dass uns jemand schon mal einen Einblick geben kann. Der erleichtert dann die Aufwandsschätzung. In anderen Fällen findet die Aufnahme des Ist-Zustandes auf Budget-Basis statt. Wir haben dann ein bestimmtes Tages-Kontingent und hoffen, dass die Ist-Aufnahme nicht mehr Zeit in Anspruch nimmt, als wir kalkuliert haben: Das Projektbudget soll ja möglichst der Lösungsfindung dienen.
Was ist aus deiner Sicht der Grund dafür, dass qualifizierte Mitarbeiter für ein Projekt nicht zur Verfügung stehen?
Es ist sehr ungünstig, wenn nur eine einzelne Person über bestimmte Vorgänge und wichtige Details Bescheid weiß. Das nennt sich Kopfmonopol. Es ist schon gefährlich, wenn so jemand in Urlaub ist oder plötzlich krank wird. Wenn ein Projekt ins Haus kommt, bedeutet das, dass etwas geändert werden soll. Der Status quo im Unternehmen läuft weiter und muss aufrechterhalten werden. Gleichzeitig muss es allerdings jemanden geben, der dem externen IT-Dienstleister im Projekt zur Seite steht und dessen Vorschläge entgegennimmt. Wenn diese eine Person die einzig kompetente Ansprechstation für das Projekt ist, doch schon acht Stunden mit den täglichen Arbeiten im IT-Betrieb ausgelastet ist, funktioniert das nicht.
Im Projekt arbeitet ihr also häufig mit den Vertretern der Wissensträger?
Ja, wenn es mehrere Mitarbeiter mit unterschiedlich tiefem Wissen gibt, wird uns der Mitarbeiter zugeteilt, der weniger Wissen hat und im akuten Tagesgeschäft eher entbehrlich ist. Wenn jedoch diese Vertretung nicht über einen ähnlich breiten oder tiefen Wissensstand verfügt wie die Person, die sie vertreten soll, ist das keine gleichwertige Redundanz, nicht an der Schnittstelle zu uns und auch nicht im Tagesgeschäft. Wir von ComConsult kennen die Problematik aus dem Seminargeschäft. Soll ein Mitarbeiter seinen Kollegen als Referent in einem Seminar vertreten, muss er dafür sowohl das entsprechende Hintergrundwissen haben als auch den Vortrag des Kollegen kennen. Auch wenn sich der Vertreter in der Thematik auskennt, braucht er Vorlaufzeit, sich den aktuellen Stand der Vortragsfolien des Kollegen anzuschauen und etwas auf sich anzupassen. Das ist bei einem Ad-hoc-Ausfall des Referenten schon stressig. Bei Vorträgen, die man zum ersten Mal sieht, kann das heikel werden.
Wie wäre deiner Meinung nach ein ideales Vertretungsmodell?
Ich stelle mir einen Zustand vor, in dem mehrere Personen über einen ähnlich guten Wissensstand und die dazugehörenden Fertigkeiten verfügen und sich mit kurzem Vorlauf gegenseitig bei bestimmten Aufgaben ersetzen können. Dieser Zustand fällt nicht vom Himmel.
Warum sollen mehrere Personen die Vertretung übernehmen?
Stellen wir uns vor, ein Mitarbeiter fällt kurzfristig für längere Zeit aus. Wie soll das funktionieren, wenn ein Kollege dann alle Aufgaben des kranken Mitarbeiters komplett übernehmen soll? Viel schlauer ist es, die Redundanzen zu verschiedenen Themen auf mehrere Mitarbeiter zu verteilen. Das Streuen über verschiedene Personen braucht ein wenig Geschick. Man muss ja darüber den Überblick behalten und darf auch nicht einzelne Personen „überfrachten“.
Was ist dein Ratschlag, wie man das interne Wissen zentralisieren und später umverteilen kann?
Ein Hilfsmittel ist die Dokumentation. Nur mit Kopfwissen wird das geschickte Streuen nicht funktionieren. Problem dabei ist das „Wie“: Ich habe eingangs schon erwähnt, dass Kunden Dokumentationen beginnen, sie jedoch nicht fertigstellen oder nicht regelmäßig pflegen. Gerne werden dazu Tools wie beispielsweise Wiki benutzt. Voller Eifer geht man schnell ans Werk, doch dann kommt das Tagesgeschäft und das Vorhaben bleibt auf der Strecke. Hier kommen wir in das Beratungsfeld von IT-Services. Oft scheitert man an scheinbaren Kleinigkeiten. Ein Thema sind Spickzettel. Das klingt jetzt albern, doch man kann sie auch im elektronischen Zeitalter haben. Wir hatten Projekte, in denen wir im Nachhinein Betriebsunterlagen erstellen sollten. Wir begaben uns auf die Suche nach den Kopfmonopolen. Es kamen Notizen der alteingesessenen Mitarbeiter aus allen möglichen elektronischen Schubladen zum Vorschein. So hilft Dokumentation wenig: Nur der betreffende Mitarbeiter wusste, wo ein Spickzettel zu finden ist und was die Notiz bedeutete, weil es zum Beispiel dazu eine Vorgeschichte gab.
Wir schauen uns zu IT-Dokumentation möglichst umfassend an, wie und womit Personen im IT-Bereich momentan arbeiten. Die Hilfsmittel, die genutzt werden und mit denen man offenbar gut zurechtkommt, sollte man dem Personal erst einmal lassen. Radikaler Wegwerfzwang, etwa bei Einführung eines neuen Tools, würde den laufenden Betrieb stören. Manche Mitarbeiter arbeiten gerne mit Excel, andere lieber mit Word oder Texteditor. Die einen schreiben Texte, die anderen arbeiten bevorzugt mit Bildern. Es ist ja möglich, alle diese Dateien zunächst in ein Web-basiertes Tool einzubinden. Wichtig ist dabei, Möglichkeiten wie Verschlagwortung abgestimmt zu nutzen, damit die Texte und Dateien schnell auffindbar sind. So funktioniert etwa die Hashtag-Idee. Der Trick besteht darin, etwas zu schaffen, womit die Leute arbeiten möchten, worin sie sich gut zurechtfinden und was durch geringen Aufwand gepflegt werden kann.
Eine Hürde, die man nehmen muss: Derjenige, der das Kopfmonopol hat, empfindet es oft als Vorteil, der alleinige Wissensträger zu sein, weil er dadurch für das Unternehmen als unverzichtbar eingeschätzt wird. Er gibt deshalb unter Umständen wichtige Informationen nur ungerne preis. Das passiert auch unbewusst. Hier kommt die Führungskraft ins Spiel, die diese Situation erkennen muss. Das Management muss Mitarbeiter benennen, die als Redundanz fungieren sollen und muss die Wissensstreuung einfordern und beobachten. Natürlich müssen Dokumentationserstellung und Wissensaustausch mit in die Kapazitätsplanung einfließen, und die Lernerfolge sollten regelmäßig kontrolliert werden. Die Einarbeitung sollte durch Training on the Job erfolgen. Eine einmalige Schulung bringt in der Regel wenig.
Gibt es Kunden, die eine ausführliche Dokumentation darüber haben, wie sie sich in ihren Strukturen und Abläufen selbst organisieren?
Sobald ein Unternehmen eine Zertifizierung anstrebt, ist es gezwungen, eine solche Dokumentation anzufertigen und diese auch zu pflegen. Wir sprechen hier von allen Zertifizierungen, die das Wort „Management-System“ im Namen haben, also zum Beispiel Informationssicherheits-Management-System, Qualitäts-Management-System oder Service-Management-System. Die Zertifizierung bescheinigt eine strukturierte und geregelte Vorgehensweise zu bestimmten Abläufen, bei der zu jedem Thema auch eine eindeutige Zuordnung der personellen Zuständigkeiten vorliegt. Redundanz gehört dazu.
Nicht alle unsere Kunden wollen eine Zertifizierung. Der formale Aufwand ist sehr groß. Man kann allerdings bei Organisation, Aufgabenverteilung und Hinschreiben abgestimmter Punkte so vorgehen, als wolle man eine Zertifizierung anstreben, konzentriert auf die Themen, wo es hapert. Benutzt man dazu die Anforderungen und Umsetzungshilfen für Zertifizierungswillige als Anleitung, entsteht Dokumentation, die für alle Mitarbeiter als Richtschnur und Arbeitshilfe dienen kann. So gehen wir in Beratungsprojekten oft und erfolgreich vor, konzentriert auf den IT-Service-Bereich, dem wir helfen sollen. Ein Vorteil daran ist auch, dass der Kunde bezüglich Dokumentation nicht nochmal bei null anfangen muss, sollte später doch eine Zertifizierung gewollt sein.
Warum wird der Kompetenzbereich IT-Services von ComConsult zu Hilfe geholt?
Von der Idee zur Umsetzung im Arbeitsalltag ist es ein langer Weg. Dabei geht es gar nicht so sehr um technische Details, sondern darum, wie das Vorhaben organisiert werden kann. Und da der Prophet im eigenen Lande nicht viel wert ist, ist es oft effektiver, sich eine Stimme von außen zu holen. Anderer typischer Fall: Wenn wir als externe Berater Vorschläge zur Optimierung der Arbeitssituation bei einer Führungskraft einreichen, die diese nach Feinabstimmung dann umsetzt, kommt erst gar nicht die Frage auf, warum die Führungskraft nicht selber auf die Idee gekommen ist. Selten treten wir als reiner Gutachter zur Schwachstellennennung auf, lieber mit Hilfe zur Selbsthilfe als Beratungsleistung.
Kannst du ein Beispiel dafür nennen, wo dir mangelnde Personalredundanz negativ aufgefallen ist?
Ich möchte jetzt bewusst kein Beispiel aus unseren IT-Projekten nennen, sondern von einer Situation aus dem Alltag erzählen, die sicher jeder schon einmal in ähnlicher Weise erlebt hat. Vor einiger Zeit habe ich abends Leergut zu meinem Supermarkt gebracht. An der Pfandannahme stand eine lange Schlange, die Automaten waren außer Betrieb. Die einzige noch anwesende Kassiererin erklärte, dass der Mitarbeiter, der als einziger dazu in der Lage war, die Pfandautomaten zu bedienen, Pause hatte. Weil ich mit meinen Pfandflaschen den Laden ja nicht wieder verlassen durfte, war ich gezwungen zu warten, bis der Mitarbeiter seine Pause beendet hatte. Hätte die Kassiererin eine kleine Einführung in die Funktionen des Pfandautomaten erhalten – und sei es einfach nur so weit, den vollen Behälter gegen einen leeren zu tauschen und das Gerät wieder in Gang zu setzen – wäre vielen verärgerten Kunden das Warten erspart geblieben. Die Idee ist weder genial noch furchtbar aufwändig – und für wiederkehrende IT-Aufgaben auch anwendbar. Wo nötig, gibt es die „howto“-Hilfsdoku als Stütze.