Warum die Reaktionen auf den demografischen Wandel unzureichend sind
02.10.2024 / Dr. Behrooz Moayeri
aus dem Netzwerk Insider Oktober 2024
Die demografische Entwicklung spricht für sich: Der sogenannte Pillenknick, d.h. der Geburtenrückgang nach der Erfindung moderner Verhütungsmittel, macht sich bemerkbar. Leute meiner Generation sind zahlreich, ein paar Jahre jüngere nicht mehr. Unsere Generation erreicht nun das Rentenalter. Wir scheiden aus dem Arbeitsleben aus. Da vor ungefähr zwei Jahrzehnten (so wie die ganzen letzten sechs Jahrzehnte) nicht so viele Menschen geboren wurden wie bis vor dem Pillenknick, schrumpft die arbeitende Bevölkerung. Aus meiner Sicht sind die Reaktionen darauf unzureichend.
Nur Fachkräftemangel?
Oft wird nur von Fachkräftemangel gesprochen. Diese Diagnose führt zur Betonung einer bestimmten Therapie. Die Therapie heißt Qualifizierung. Man brauche nur die Menschen zu bilden und zu qualifizieren, um das Problem zu lösen.
Dabei geht es um das breitere Problem des Arbeitskräftemangels. Durch den demografischen Wandel gibt es weniger Menschen am Übergang von der Minderjährigkeit bzw. der Schul- und Ausbildungszeit zur Erwerbstätigkeit, als es Leute am Übergang von der Erwerbsarbeit zum Ruhestand gibt.
Der US-amerikanische Politikwissenschaftler John Mearsheimer bezeichnet die Bevölkerungsstärke als einen der wesentlichen Faktoren der Macht von Staaten. Deshalb ist er der Meinung, dass die USA durch die weiterhin wachsende Bevölkerung im Vergleich zu China mit seiner stagnierenden Population langfristig an Boden gewinnen werden.
Politik, geschweige denn Weltpolitik, ist jedoch kein Fokus dieser Kolumne. Wie die Politik auf den demografischen Wandel reagiert, ist bekannt bzw. unbekannt. Für meine Betrachtung hier bleibt nur festzuhalten, dass Europa mit dem Arbeitskräftemangel leben lernen muss.
Ersetzt Technik Menschen?
Wenn die Zahl der Arbeitskräfte sinkt und der Umfang der durchzuführenden Arbeit nicht adäquat abnimmt, bleibt nur die Folge, dass manche Arbeiten liegenbleiben oder mit schlechterer Qualität (weniger gut, viel später als erhofft) durchgeführt werden. Damit die Qualität nicht leidet, muss der Aufgabenumfang reduziert werden. In bestimmten Bereichen kann Technik Menschen ersetzen, insbesondere in der Produktion.
Effizienz durch Technik ist jedoch nicht so einfach. Einige der Gründe dafür sind wie folgt, ohne Anspruch auf Vollständigkeit:
- Produktion skaliert besser als Dienstleistung. Unter dem Dach der Rohbauhalle eines Automobilwerks lassen sich hunderte teure Roboter gewinnbringend einsetzen, damit am Tag tausende Autos vom Fließband rollen. Altenpflege ist anders.
- In den letzten fünf Jahrzehnten wurde die Produktion zu einem hohen Anteil von den reichen zu Entwicklungsländern ausgelagert. Das Verdrängen von Menschen aus der hiesigen industriellen Produktion bleibt für den verbleibenden großen Sektor der Dienstleistungen wirkungslos.
- Im letzten Vierteljahrhundert wurde gerade in Deutschland der Niedriglohnsektor dafür geschaffen, damit Unternehmen auch bei Dienstleistungen Margen erzielen können. Bei niedrigen Löhnen gibt es weniger Drang zur Effizienzsteigerung, d.h. weniger Innovation. Selbst wenn jetzt verspätet in Innovation investiert wird, kann es Jahre dauern, bis sich der Effekt zeigt.
Kaum Automatisierung bei IT-Dienstleistungen
Was makroökonomisch gilt, habe ich persönlich auch im Bereich von IT-Dienstleistungen erlebt. Es gibt kaum Automatisierung bei IT-Dienstleistungen. Viele Aufgaben von IT-Personal fühlen sich wie Strafarbeit an: immer wieder dieselben Befehle eingeben, an verschiedenen Stellen Konfigurationen vornehmen, dieselben Vorgänge tagein, tagaus wiederholen. In Ausschreibungen für IT-Automatisierung erleben wir, wie schwer sich die Bieter einschließlich der Hersteller damit tun. Lösungen wie Software-Defined Network (SDN), die vor zehn Jahren als Mittel zu mehr Effizienz beim Personaleinsatz auf den Markt kamen, haben hier wenig bewirkt oder die Situation noch schlimmer gemacht. Es gibt kaum Automatisierungstools, die über einen bestimmten engen Bereich wie zum Beispiel LAN-Switches hinausgehen und auch Firewall-Einstellungen, DNS-Konfigurationen etc. abdecken. Die wenigen Lösungen für Automatisierung sind so teuer und so aufwändig in der Einrichtung, dass sie sich kaum lohnen.
So bleibt es bei weitgehend manuellen Eingriffen in die IT, von Konfiguration bis zur Problemlösung.
Immer mehr Formalismus
Die zunehmende Regulierung ist mit Mehrarbeit verbunden. Vorgaben im Bereich der Informationssicherheit und des Datenschutzes bedeuten Mehrarbeit für IT-Personal, das nicht adäquat zahlreicher geworden ist und neben dem eigentlichen Tun nun auch viel Dokumentation erledigen muss. Viele Dokumentationen sind redundant. Teilweise müssen zum Beispiel dieselben Sachverhalte sowohl als technische und organisatorische Maßnahmen für den Datenschutz beschrieben werden als auch als Dokumentation für das Information Security Management System (ISMS). Die Autoren von redundanten Dokumentationen wissen manchmal gar nichts voneinander. Ab und zu freut sich ein Dienstleistungsunternehmen über einen Auftrag mit dem Schwerpunkt Dokumentation und hat kein Interesse zu hinterfragen, ob die Arbeit durch Wiederverwendung von anderweitig vorhandenen Textbausteinen oder besser durch Verweise auf andere Dokumentationen nicht effizienter zu erledigen ist. Manche Auditoren geben sich mit solchen Verweisen gar nicht zufrieden und wollen genau die Dokumente vorfinden, die auf ihrer Liste stehen. Gesetzgeber drehen weiter an der Formalismusschraube.
Ergebnis: IT-Betrieb wird aufwändiger. Bei sinkender Personalzahl.
Der Kunde ist nicht mehr König
Ich wundere mich immer öfter über Auftraggeber, für die der demografische Wandel anscheinend ein Modewort in den Medien ist, das keine für sie ausschlaggebende Entwicklung beschreibt. Die Vorstellung, der Kunde sei König und sein Wunsch Befehl, schwirrt noch in vielen Köpfen. Dabei ist die Situation längst so, dass mehr Anfragen da sind als IT-Dienstleistungsunternehmen bewältigen können. Folglich selektieren die potenziellen Bieter unter den Anfragen und beantworten bevorzugt weniger anspruchsvolle Anfragen. Anfragen bzw. Ausschreibungen mit höheren Anforderungen bleiben oft unbeantwortet. Wenn man nicht hauptberuflich IT-Vergabeverfahren begleitet und nur alle paar Jahre Dienstleistungen ausschreiben muss, ist das Unverständnis über die vermeintliche Arroganz von Bietern nachvollziehbar. Es geht jedoch nicht um Arroganz, wenn potenzielle Bieter von einem Angebot absehen. Auch diejenigen, die Angebote ausarbeiten oder dazu beitragen müssen, leiden unter zu viel Arbeit und sind folglich geneigt, an Angeboten mit größerer Erfolgsaussicht oder Angeboten mit weniger Bearbeitungsaufwand zu arbeiten.
Was tun?
Wie bereits erwähnt müssen auch die IT-Verantwortlichen den Umgang mit dem Arbeitskräftemangel lernen, weil sie dessen Ursache nicht aus der Welt schaffen können. Das heißt:
- Vorhaben sind in Prioritäten zu kategorisieren. Auch wenn wir bei ComConsult ebenfalls Dienstleistungen anbieten und von einer Anfrageflut scheinbar profitieren würden, setze ich jetzt den Hut des Beraters auf, der seinen Kunden reinen Wein einschenken muss. Vorhaben, die vor ein paar Jahren weniger aufwändig waren, sind heute aufgrund der zugenommenen Komplexität und Dokumentationspflicht mit einem bisher unbekannten Zusatzaufwand verbunden. Wenn sie nicht dringend sind, haben sie niedrige Priorität.
- Oft haben die Organisationen ein steigendes IT-Budget, jedoch stagnierende personelle IT-Kapazitäten. Arbeiten, die Externe erledigen können, vielleicht sogar effizienter, weil sie diese Arbeiten häufiger durchführen, sind auszulagern. Das gilt in stärkerem Maße für Projekte als für den laufenden IT-Betrieb. Ein Teil des eigenen IT-Betriebspersonals ist jedoch an Mitarbeit in Projekten interessiert, weil diese Arbeit abwechslungsreicher ist. Dies gilt nicht für alle Menschen. Viele bevorzugen eher wiederkehrende Betriebsaufgaben, weil sie sich darin sicherer und souveräner fühlen. Die Personalpolitik von IT-Verantwortlichen muss auf diese verschiedenen Neigungen von Menschen Rücksicht nehmen. In Zeiten des Arbeitskräftemangels muss man die Menschen für die Arbeit begeistern. Das gelingt nur, wenn Menschen hauptsächlich Dinge tun, die sie tun möchten.
- Situationen mit ausreichendem oder mehr als ausreichendem IT-Budget bei Mangel von Arbeitskräften müssen auch Folgen für Vertragsstrafen haben. Diese dürfen nicht als Mittel der Einsparung verstanden werden, sondern nur als Ansporn für die Verbesserung der Service-Qualität. Wie wäre es mit folgender Idee: Geben Sie Ihren Auftragnehmern Punkte der Kundenzufriedenheit, die gegen Vertragsstrafen verrechnet werden.
- Anfragen müssen einfacher werden. Wir bei ComConsult beobachten den umgekehrten Trend. Insbesondere öffentliche Auftraggeber haben den Aufwand für Angebote erhöht und tun dies weiter. Beispiel: Referenzen müssen mit personenbezogenen Daten der Ansprechpartner genannt werden. Dies verursacht den Aufwand für die Nachfrage bei den Ansprechpartnern. Interessant: Diejenigen, die solche Forderungen stellen, möchten selbst nicht als Referenz genannt werden. Wie wäre es damit: Fordern Sie vom Bieter, dass er sich bereit erklärt, bei Bedarf auch nachträglich Ansprechpartner zu nennen. So bekommen Sie mehr Angebote, und können nur bei interessanten Angeboten bzw. nur bei Zweifel nachhaken.
Die Liste der Empfehlungen ließe sich fortsetzen, was jedoch den Rahmen dieses Artikels sprengen würde. Ich stehe Ihnen gerne für Diskussionen zum Thema zur Verfügung und lerne auch gerne von Ihnen.